Briefwechsel mit einem Apologeten der SEP-Führung:

Die „merkwürdige Verirrung“ der WSWS beim Irak-Krieg und anderen Angelegenheiten

Ich gebe hier die Kommentare eines Lesers, mdv, und meine Antwort darauf wieder. Ausgehend von seinen Bemerkungen ist es angemessen, ihn als einen Apologeten der SEP-Führung zu bezeichnen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass er im Gegensatz zu David North (oder den Talbots) versucht Teile der grundlegenden Kritik zu erwidern, welche wir an der politischen Linie und der Praxis der SEP geübt haben. Beim Versuch die SEP Führung zu verteidigen macht er unbeabsichtigt einige aufschlussreiche Bemerkungen, welche für unsere Leser hervorgehoben werden sollten. Ein weiterer Grund für die Antwort an mdv ist, dass er Ansichten äußert, die wahrscheinlich von anderen SEP Mitgliedern und Unterstützern geteilt werden.

Mdvs Kommentare sind der jüngste Teil eines Briefwechsels der sich zwischen ihm und Andrew River entwickelt hatte. Dieser begann mit Rivers Blog-Eintrag auf permanent-revolution.org über David Norths Rede bei einer Slawistik-Konferenz1. Was diesen Briefwechsel angeht, habe ich nichts zu Rivers Bemerkungen hinzuzufügen, und mdvs jüngster Beitrag trägt nichts neues zum Thema bei. Doch vom zweiten Absatz an geht mdv zu einer breiter angelegten Verteidigung der SEP-Führung über, und mit diesen Bemerkungen setze ich mich hier auseinander.

Frank Brenner

* * *

Mdvs Kommentar:

Ich glaube du greifst nach einem Strohhalm um eine Anschuldigung gegen North hervorzubringen, die zur Sichtweise passt, die Steiner, Brenner und du konstruiert haben. Wieder einmal spielst du auf großen ideologischen Schlussfolgerungen herum, welche du aus Norths gar nicht so unglücklich formulierten Bemerkungen ableitest (du wandelst diese in ein „Schema“ um, welches im Widerspruch zu den Grundlagen des Marxismus stehe). Dies nutzt du um mir Vorträge zu halten, wie die Geschichte nicht automatisch die Probleme der Revolution, des Sozialismus usw. löst.

Du übersiehst in deiner Antwort was ich wirklich gesagt habe: Dass diese Themen tausendfach in WSWS Artikeln, Reden, Vorträgen und Konferenzen besprochen wurden. Deine Anschuldigungen (nämlich Norths „offensichtliche“ Zurückweisung der Grundlagen des Marxismus. Ich habe weder Zeit noch Lust auf ein paar Duzend Seiten aus dem schmerzlich dichten MWHH [„Marxism Without its Head or its Heart“ von Alex Steiner u. Frank Brenner] zu antworten) passen nicht zu dem vielen Material dass auf der WSWS veröffentlicht wurde. Darüber hinaus widersprechen sie dem Großteil von vierzig Jahren dokumentierter Tätigkeiten und Erklärungen des Internationalen Komitees.

Außerdem glaube ich, dass sie mehr als je zuvor unangebracht sind, denn die SEP hat damit begonnen etwas gegen die längere Periode organisatorischen Schwundes zu tun. Die Einführung der neu gestalteten Webseite, die Verabschiedung einer neuen Parteiverfassung, echte Schritte hin zum Aufbau einer Studentenorganisation, dies alles sind wohl kaum Anzeichen dafür, dass die Parteiführung sich in philosophischen Obskurantismus zurückgezogen hat.

Deine Argumente sehen nicht besser aus, was die Manifestation von Norths angeblichen philosophischen Irrtümern in politischen Fehlern angeht. Ich will nicht bestreiten, dass eine Reihe von im Jahr 2004 veröffentlichten WSWS-Artikeln zum Irak-Krieg eine fragwürdige Einstellung zu den dortigen Ereignissen hatte. Ich erinnere mich an mein Gespräch mit einem altgedienten Parteimitglied darüber, zu jener Zeit, als er (in trotzkistischer Tradition) eine ziemlich kritische Haltung zum irakischen „Widerstand“ und seiner Lobhuldigung auf der WSWS hatte.

Aber ich widerspreche Steiners und Brenners Behauptung, dass diese Artikel einen fundamentalen Wechsel in der politischen Linie des IKVI und die „Abkehr von der Permanenten Revolution und die Hinwendung zum bürgerlichen Nationalismus“ bedeuten. Die Webseite und die Organisation sind fehlbar. Sie können Fehler machen, und sie machen sie auch. Sie können Artikel veröffentlichen deren Analyse fragwürdig ist und deren politische Linie einer Überarbeitung bedarf (obwohl die „politische Line“ in den erwähnten Artikeln nur angedeutet war). Solange du keine neuen, konkreten Belege dafür hast, dass die Schwächen dieser Äußerungen (welche, wie Steiner und Brenner zugeben, später berichtigt wurden) nur der Anfang einer fortwährenden Abwendung von der Permanenten Revolution und der Hinwendung zum bürgerlichen Nationalismus sind, betrachte ich diese Episode eher als merkwürdige Verirrung. Ich habe keinen Grund zu glauben, dass dies massive und noch aufzuarbeitende ideologische Irrtümer seitens Norths und des Internationales Komitee waren, wie Steiner und Brenner behaupten.

Die übrigen deiner Vorwürfe zu den angeblichen Auswirkungen von Norths „Objektivismus“ sind einfach lächerlich, was ich dir schon in einem Gespräch nach der Veröffentlichung von MWHH dargelegt habe. Jeder könnte das Versäumnis einer Organisation dieses oder jenes zu tun zum Nachweis für eine Schlussfolgerung nehmen, zu der man schon weit im Voraus gelangt ist. Die SEP ist eine kleine Organisation am politischen Rand, mit begrenzen Mitteln und wenig Personal. Selbst die am besten organisierte und prinzipientreueste Partei der Welt kann nicht in jedem Land zu jeder beliebigen Zeit eingreifen, einen erfolgreichen Streik nach dem anderen produzieren oder einen vorbildlichen Wahlkampf bei jeder Wahl führen. Doch du beschuldigst die SEP, dass sie es versäumte im Jahr 2006 nach Mexiko zu reisen, dort in die Proteste einzugreifen und im Alleingang eine neue Sektion zu gründen (wenn ich mich recht erinnere, behaupteten Steiner und Brenner, dass dies alles ein realistisches Unternehmen für Bill Van Auken gewesen wäre!).

Wenn du ernsthaft glaubst, dies sei ein richtiger und intellektuell ehrlicher Vorwurf an North und die SEP, dann denke ich, dass man das gleiche auch gegen Steiner und Brenner hervorbringen kann. Warum haben Steiner und Brenner nicht in den Streik im örtlichen Supermarkt in meiner Stadt eingegriffen? Warum haben Steiner und Brenner nicht an den jüngsten Protesten in Oakland teilgenommen, und dabei tausende Leute für den Sozialismus gewonnen? Warum haben Steiner und Brenner nicht an den Protesten gegen Proposition 8 [Volksbegehren in Kalifornien gegen Homo-Ehen, d. Übers.] teilgenommen, um schließlich eine sozialistische Organisation mit mehreren tausend Mitgliedern in Kalifornien zu schaffen? Ich könnte so weitermachen, aber ich denke die Absurdität dieser Argumente ist klar genug. Steiners und Brenners Versagen das zu tun, von dem ich denke dass sie es tun müssten, und mit den Ergebnissen die ich verlange, ist kein Beweis für deren Heraushaltungspolitik zu politischen Ereignissen, welche in einem tiefgreifenden „Objektivismus“ verwurzelt ist.

* * *

Frank Brenner antwortet:

I.

Fangen wir mit dem Irak an. Mdv gesteht ein, dass „ eine Reihe von im Jahr 2004 veröffentlichten WSWS-Artikeln zum Irak-Krieg eine fragwürdige Einstellung zu den dortigen Ereignissen hatte“. Und dies ist nicht nur seine eigene Meinung. Er berichtet von einem „Gespräch darüber mit einem altgedienten Parteimitglied zu jener Zeit, als er (in trotzkistischer Tradition) eine ziemlich kritische Haltung zum irakischen ‚Widerstand‘ und seinen Sympathisanten hatte“.

Dies ist ein bedeutsames Eingeständnis. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass mdv und das „altgediente Parteimitglied“ welches er erwähnt, nicht die Einzigen mit solchen Ansichten waren. Andere in der SEP oder um sie herum mussten ähnliche Bedenken gegenüber der „Lobhuldigung“ der WSWS für den irakischen „Widerstand“ (besonders den bürgerlich-nationalistischen schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr) gehabt haben. Sie mussten erkannt haben, dass dies eine Abweichung von der „trotzkistischen Tradition“ verkörperte. Ich sage dass wir dies mit Sicherheit annehmen können, weil diese Abweichung weder subtil noch ein kurzzeitiger Fehltritt war, und sie schließlich jedem Trotzkisten mit politischem Verständnis hätte auffallen müssen.

Man könnte denken, dass eine Angelegenheit von solcher Bedeutung eine überaus gründliche Untersuchung nach sich ziehen würde. Schließlich ist der Irak-Krieg das größte imperialistische Verbrechen seit dem Vietnam-Krieg, und so sollte „eine fragwürdige Einstellung zu den dortigen Ereignissen“ seitens einer revolutionären Bewegung eine wichtige Angelegenheit für alle Marxisten sein.

Aber mdv stimmt dem nicht zu. So weit es ihn angeht, kann man die Begeisterung der WSWS für Sadr einfach als „merkwürdige Verirrung“ abtun. „Die Webseite und die Organisation sind fehlbar“, sagt er uns. „Sie können Fehler machen, und sie machen sie auch.“ Aber der tatsächliche Bilanz der WSWS in Bezug auf den Irak (dazu gleich mehr) sagt etwas anderes aus: Wenn Fehler über Monate und Jahre wiederholt werden, dann ist dies mehr als bloß Fehler.

Selbst wenn es sich nur um Fehler handeln würde, müsste man bei einer prinzipiellen Herangehensweise die „Verirrung“ zugeben und erklären, warum sie geschah. Tut man dies nicht, so kehrt man das Problem unter den Teppich und garantiert so weitere „Verirrungen“ in der Zukunft. Die ganze Rhetorik über die Verteidigung des Marxismus als Wissenschaft klingt überaus hohl, wenn man einen Fehler zu solch einer wichtigen politischen Angelegenheit nicht ehrlich angehen kann.

Doch North macht das gerade nicht. Er hat niemals eine „Verirrung“ in Bezug auf den Irak zugegeben, oder gar die wesentlich gravierenden Vorwürfe eingestanden, die wir in „Marxism Without its Head or its Heart“ (MWHH) hervorgebracht haben. In seiner Antwort darauf (in der falsch benannten Artikelserie „Marxismus und Frankfurter Schule“) widmet er nicht eine Seite, nicht einmal einen Absatz, dem Irak2. Diese Stille ist kein Fehler, sie ist unzweifelhaft ein Symptom tieferer Probleme. Wenn irren menschlich ist, dann ist das Ignorieren von Fehlern der Weg um eine revolutionäre Bewegung zu ruinieren.

In jedem Fall hält die Behauptung, dass die WSWS-Linie zum Irak nicht mehr ist als eine „merkwürdige Verirrung“, einer genaueren Untersuchung nicht stand. Mdv kann dies nur behaupten, weil er die tatsächliche Bilanz der WSWS verdreht. Zunächst ist die offene Begeisterung für Sadr nicht nur auf einige Aritkel aus dem Jahr 2004 beschränkt. Sie begann im April jenes Jahres und dauerte bis zum Oktober 2005. Dies war eine wichtige 18-monatige Periode des Krieges, welche vom Massker in Fallujah bis zum Beginn der religiösen sektiererischen Gewalt reichte, welche schließlich das Land in einer Blutorgie versinken ließ (worin Sadrs Bewegung eine Schlüsselrolle spielte). Wenn ein Fehler 18 Monate lang wiederholt wird, so ist dies kein Fehler mehr, sondern eine neue Ausrichtung. Eine Ausrichtung, die mit der trotzkistischen Tradition unvereinbar ist.

Weiterhin ist es bemerkenswert, dass während dieser Zeit wichtige Kämpfe in der irakischen Arbeiterklasse stattfanden, welche die WSWS völlig unerwähnt ließ. Dies passt zur Sichtweise, dass es sich hier um mehr als nur unabsichtliche Irrtümer handelt: In der neuen Perspektive zum „nationalen Widerstand“, die die WSWS zusammen mit ihrer Anpreisung Sadrs annahm, gab es keinen Platz mehr für eine unabhängige Arbeiterklasse.

Noch schwerer ist es, den Begriff „Verirrung“ aufrechtzuerhalten, wenn wir untersuchen, wer am Jubel für Sadr teilnahm. Wir sprechen nicht von jungen Reportern die sich von ihrer eigenen Rhetorik mitreißen ließen. Die neue politische Linie zu Sadr wurde durch zwei Erklärungen eingeführt, die die Zustimmung der Redaktion der WSWS aufwiesen. Im ersten Fall erklärte die Redaktion am 7. April 2004 ihre Unterstützung für die Linie des „irakischen Widerstands“. Am nächsten Tag pries die Redaktion in einer weiteren Erklärung Sadrs „politischen Entwicklungsstand“. Einige Tage später wiederholte North selbst das Lob für Sadr, in Worten die den schiitischen Kleriker zur Volksstimme des Irak erklärten.3

Einige Monate später lobte Patrick Martin, ein erfahrener WSWS-Autor und Parteimitglied, die Sadristen als „authentischen Ausdruck der weit verbreiteten anti-amerikanischen und anti-kolonialen Stimmung“ und verglich sie mit den amerikanischen Unabhängigkeitskämpfern von Concord und Lexington [im Jahr 1775, d. Übers.]. Peter Schwarz, der langjährige Leiter der deutschen PSG und Mitglied der WSWS Redaktion, nannte Sadr ein Symbol des irakischen Widerstands. Dabei griff er auf das abgenutzte revisionistische Argument zurück, dass das irakische Volk die „zur Verfügung stehenden politischen und ideologischen Mittel nutzte“, und deshalb Marxisten dies als vollendete Tatsache akzeptieren und die Islamisten unterstützen müssen. Ebenso sollte man Norths beschämenden Auftritt in einer öffentlichen Debatte am Trinity College in Dublin nennen. Er fand genau zu dieser Zeit statt, und North nahm dabei einen ungeniert liberalen Standpunkt zur internationalen bürgerlichen Justiz ein. Diese Haltung ist ein weiterer Beleg für den Bruch mit der trotzkistischen Tradition, welcher ebenso in der Hinwendung zum bürgerlichen Nationalismus im Irak sichtbar wurde.

Inzwischen manifestierte sich die politische Linie der WSWS zum Irakkrieg in offenem Jubel für Sadr. Als z.B. die Sadristen Demonstrationen in Bagdad veranstalteten, berichtete die WSWS von ihren Spruchbändern („Ja zum Islam, Ja zum Irak. Nein zur Besatzung, Nein zum Terrorismus“) und den Demonstrationsrufen („Nein, nein zu den Amerikanern. Ja, ja zum Islam“) ohne ein Wort der Kritik. Tatsächlich war der einzige Kommentar der WSWS: „Einige irakische Polizisten im Dienst erhoben ihre Fäuste als Zeichen der Solidarität“. Als dieser Bericht veröffentlicht wurde (am 11. April 2005) dauerte die sogenannte „Verirrung“ bereits über ein Jahr lang an. (Man sollte erwähnen, dass einige Monate später die „Solidarität“ zwischen der Polizei und den Sadristen, die die WSWS so ermutigend fand, sich zur Bildung von schiitischen Todesschwadronen weiterentwickelte.)

Ich könnte hier noch viele weitere Details schildern, was wir auch in MWHH auf über 30 Seiten taten, aber dies reicht sicherlich aus um aufzuzeigen, dass hier viel mehr als nur eine Verirrung vorlag.

Mdv behauptet weiter, dass diese „Verirrung“ später von der WSWS „berichtigt“ wurde, was Steiner und ich angeblich zugegeben haben. Dies verzerrt sowohl die Bilanz der WSWS zum Irak als auch unsere Kritik. Das einzige was sich im Oktober 2005 änderte war, dass die WSWS ihr offenes Lob für Sadr einstellte, und dies auch nur deswegen, weil Sadrs politische Manöver solch ein Lob unhaltbar und beschämend gemacht haben. Die fortgesetzte Unterstützung der WSWS für die Perspektive des sogenannten „nationalen Widerstands“ änderte sich nicht. Genau genommen war der Kernpunkt der Kritik der WSWS an Sadr, dass er nicht nationalistisch genug war (!), wie wir gezeigt haben.4 Ebenso gab es keine Veränderung beim Ausbleiben jeglicher Berichterstattung über die Kämpfe der irakischen Arbeiterklasse, und es gab bezeichnenderweise nicht einen einzigen Artikel, der die Perspektive des Aufbaus einer trotzkistischen Partei erklärte. Dies eine „Berichtigung“ zu nennen ist Unsinn, und selbstverständlich haben wir niemals so etwas gesagt. Statt dessen beschrieben wir dies zutreffend als „Sadrismus ohne Sadr“.

Mdv hat noch einen weiteren Punkt hierzu: In einer Folgebemerkung (welche darüber hinaus wenig substantielles hinzufügt) schreibt er: „Wenn man über die absichtlichen Verzerrungen und Übertreibungen des Paares [d.h. Steiners und Brenners] zur Berichterstattung der WSWS hinweg sieht, bleiben nur einige wenige problematische Artikel übrig, deren ideologischen Folgerungen später revidiert wurden, obwohl sie niemals, wie ihr wiederholt behauptet, explizit in einem Perspektivdokument des Internationalen Komitees verkündet wurden.“

Der Verweis auf unsere „absichtlichen Verzerrungen und Übertreibungen“ wurde hier eingestreut, ohne ein einziges Beispiel zu zitieren. Überhaupt ist alles was mdv zum Irak zu sagen hat bemerkenswert arm an Details. Aber diese Bemerkung macht eines klar: Mdv hat eine todsichere Methode zur Beurteilung der politischen Gesundheit des IK. So lange es keine explizite Zurückweisung der Permanenten Revolution in einem Perspektivdokument des IK gibt, gibt es nichts worüber man sich sorgen müsste. Dies ist als ob ein Arzt einen Patienten so lange für gesund erklärt, bis er nicht „explizit“ tot ist. Mdvs Maßstab zufolge blieb die SPD noch für Jahrzehnte nach 1914 eine marxistische Partei, weil sie erst in den 1950ern den Marxismus „explizit“ zurückwies. Die sowjetische Kommunistische Partei unter Stalin war sogar noch „expliziter“ marxistisch und leninistisch, selbst als sie zehntausende Kommunisten in den Schauprozessen abschlachtete. Das gleiche Muster (obwohl nicht dieselbe Größenordnung des Verrats) ist in der Geschichte des Trotzkismus sichtbar: Cannons SWP und Healys WRP hatten ihre revolutionäre Orientierung verloren lange bevor sie ihr trotzkistisches Erbe „explizit“ zurückwiesen.

Der Sinn von marxistischen Prinzipien ist, dass sie als Anleitung für die Praxis nützen müssen. Wenn man sich von diesen Prinzipien beim Aufkommen einer Krise abkehrt, sind sie bedeutungslos, bloß leere Rhetorik. Der Irakkrieg war so eine Krise, ein politische Lackmus-Test. Die WSWS selbst sah dies so. In Bemerkungen die wir in MWHH zitierten, schrieb die WSWS: „Raue Zeiten haben einen schmerzhaften, aber heilsamen Effekt: Organisationen und Individuen werden getestet. Alles was falsch, ungelöst oder prinzipienlos ist wird zwangsläufig offen gelegt.“5 Hier war der Kontext eine beißende Kritik an Noam Chomsky, dafür dass dieser den Demokraten und Kriegsbefürworter John Kerry in den US Wahlen im Jahr 2004 unterstützte. Doch die SEP konnte sich demselben Test nicht entziehen. Wenn irgendetwas „falsch, ungelöst oder prinzipienlos“ in ihrer politischen Linie zum Irak war, würde dies ebenfalls offen gelegt werden.

Ironischerweise passierte genau dies nur zwei Tage nach dem Chomsky-Artikel, als die erste Erklärung der Redaktion, die den „nationalen Widerstand“ der Islamisten verkündete, auf der WSWS veröffentlicht wurde. In anderen Worten bestand die WSWS ihren eigenen Lackmus-Test nicht. Dieses Versagen abzutun, weil die SEP immernoch formal an der Permanenten Revolution festhält, ist ein gewolltes Verschließen der Augen, und in der marxistischen Politik gibt es nichts gefährlicheres.

II.

Wir wollen uns nun einem anderem Thema zuwenden, das mdv aufgebracht hat. Er hält es für unvernünftig, oder eher „einfach lächerlich“, dass wir die SEP für ihre Heraushaltungspolitik zu den Massendemonstrationen in Mexiko kritisiert haben, die im Sommer 2006 ausgebrochen sind, nachdem die Regier­ungs­partei die Präsidentschafts­wahlen betrogen hat. Es ist erneut auffällig, dass mdvs Bemerkungen nichts konkretes enthalten: Er sagt uns nichts über die politische Situation in Mexiko und nichts über die Bilanz der WSWS zu diesen Ereignissen. Was unsere Kritik betrifft, versucht er alles mögliche um sie „lächerlich“ erscheinen zu lassen. Angeblich riefen wir Bill Van Auken dazu auf in Mexiko „ im Alleingang eine neue Sektion zu gründen“.

Vorweg ein paar Fakten: Der Wahlbetrug stürzte Mexiko in eine beispiellose Krise. Millionen Arbeiter, Jugendliche und Bauern beteiligten sich an Massen­demonstrationen, einschließlich einer einzelnen Demonstration mit über einer Million Teilnehmern, der größten in der Geschichte des Landes. Es gab eine fortgesetzte Massenbesetzung des Hauptplatzes in Mexiko Stadt, neben Dutzenden weiteren an verschiedenen Orten der Stadt. Gleichzeitig gab es im Bundesstaat Oaxaca praktisch einen Aufstand, ausgelöst durch einen Lehrerstreik. Die Krise setzte sich über Monate vom Sommer bis Herbst fort. Selbst im Dezember blieb die Situation so explosiv, dass der neue Präsident Felipe Calderon sich durch die Hintertür in den mexikanischen Kongress hereinschleichen musste, um seinen Amtseid abzulegen.6

Sechs Monate zuvor meinte North in seinem Bericht vor einer Versammlung der internationalen WSWS Redaktion, dass „eine neue Periode Revolutionärer Erhebungen begonnen hat“. Die Führung des IKVI wiederholt oft, wie ihre verschiedenen Verkündungen politischer Perspektiven ständig durch die objektive Situation „bestätigt“ werden. Hier lag nun eine Bestätigung mit aller Macht vor – eine „revolutionäre Erhebung“ aus Fleisch und Blut. Es war sicher legitim zu untersuchen, wie diese „Bestätigung“ durch die Partei in einen Eingriff in den Klassenkampf umgesetzt wurde. In anderen Worten, waren die Perspektiven des IK eine sinnvolle Anleitung für die Praxis oder nur leere Worte?

Doch mdv zufolge ist es „einfach lächerlich“ eine Partei an diesen Maßstäben zu messen. Die SEP ist „eine kleine Organisation am politischen Rand, mit begrenzen Mitteln und wenig Personal“. Keine Partei könne „in jedem Land zu jeder beliebigen Zeit eingreifen“. Die naheliegende Antwort auf letzteren Punkt ist, dass Mexiko im Sommer und Herbst 2006 eben nicht nur irgendein Land zu irgendeiner Zeit war. Wenn eine Partei so eine revolutionäre Erhebung nicht bemerkt oder routinemäßig behandelt, dann ist die Behauptung, dass man das Erbe des Trotzkismus repräsentiert, nichts weiter als heiße Luft.

Was das Geld angeht, wären die Ausgaben um eine Gruppe von Reportern aus den USA nach Mexiko zu schicken kaum unerschwinglich gewesen. Solche Reportergruppen wurden schon in andere Länder geschickt, dies kann sich die Bewegung offensichtlich leisten7. Was das Personal angeht, haben wir Van Auken erwähnt weil er Spanisch spricht und viele Jahre lang der Lateinamerika-Spezialist der WSWS war. Weiterhin war er im Sommer 2006 der SEP-Kandidat für den US-Senatssitz aus New York, und damit Gegenkandidat zu Hillary Clinton. Dies machte ihn zur ersten Wahl um so einen Eingriff zu leiten. Sie simple Wahrheit ist, dass die Entscheidung nicht in Mexiko einzugreifen absolut nichts mit fehlendem Geld oder Personal zu tun hatte – es war eine politische Entscheidung die deutlich die verfaulte Heraushaltungspolitik zeigte, die der „orthodoxen“ marxistischen Rhetorik zugrunde liegt.

Dies wird noch deutlicher, wenn wir uns ansehen, wie die WSWS über die Ereignisse von Mexiko berichtet hat. Hier sind die angeblichen Geld- und Personalbeschränkungen irrelevant: Es gab nichts was die WSWS daran gehindert hätte, programmatische Erklärungen zu der Kriese zu veröffentlichen, Artikel über die mexikanische Arbeiterbewegung und die politischen Parteien zu schreiben, oder über die wichtige Geschichte des Trotzkismus in Mexiko. Ebenso könnte man eine Bilanz der Krise ziehen als sie wieder abebbte. Nichts davon geschah. Statt dessen wurden die Ereignisse in Mexiko routinemäßig behandelt, d.h. die üblichen Aufgüsse der bürgerlichen Presse mit einigen am Ende hinzugefügten marxistischen Phrasen. Die Krönung dieser Bilanz ist die Tatsache, dass von dem Dutzend Artikel die die WSWS zu Mexiko zwischen Juli und November 2006 veröffentlichte, nur ein einziger auch in Spanisch erschien! Nur eine Partei voller schamloser Gleichgültigkeit gegenüber der mexikanischen Arbeiterklasse könnte sich so verhalten.

III.

Die Geschichte einer Bewegung ist keine Garantie dafür, dass sie eine revolutionäre Perspektive aufrechterhalten kann. Wenn daher mdv „ vierzig Jahre dokumentierter Tätigkeiten und Erklärungen des Internationalen Komitees“ als Beweis anführt, dass sich die Bewegung dem Objektivismus widersetzt, ist dieser Beweis tatsächlich nicht viel wert. Wie schon gesagt ist die Geschichte des Marxismus voller Parteien die schließlich eine reaktionäre Rolle spielten, während sie sich formal weiterhin an „orthodoxe“ Positionen hielten. Die Wahrheit ist, dass ein revolutionäres Erbe nur durch kreative Weiterentwicklung bewahrt werden kann. Wenn eine Bewegung in die „Orthodoxie“ zurückfällt, ist fast immer ein Zeichen für politische und theoretische Degeneration. In solchen Fällen wird die „Orthodoxie“ schließlich immer wählerischer und spielt die Aspekte des klassischen Marxismus herunter, die sich mit der immer konservativer werdenden politischen Orientierung der Bewegung nicht vertragen, oder ignoriert diese gänzlich.

Im Falle des IKVI ist ein hervorragendes Beispiel hierfür die völlige Nichtbeachtung von Trotzkis Notizbüchern von 1933-1935 durch die Parteiführung in den mehr als zwei Jahrzehnten seit ihrer Veröffentlichung8. Aber dies ist nur das Symptom eines viel größeren „blinden Flecks“: Die zentralen Lehren aus Verteidigung des Marxismus, die grundlegende Bedeutung der Dialektik bei der Ausbildung von revolutionären Kadern und die Notwendigkeit eines dauerhaften Kampfs gegen Pragmatismus und Empirizismus, spielen im Leben des Internationalen Komitees seit Langem keine Rolle mehr. Darauf haben wiederholt in unseren Polemiken hingewiesen, und unsere Anklage ist unwiderlegbar: Keine Vorträge oder Artikel zur marxistischen Philosophie in den letzten zwanzig Jahren, Parteischulungen in denen das Wort „Pragmatismus“ völlig unerwähnt bleibt. North hat keine Antwort auf unsere Kritik: In seiner ersten Erwiderung versucht er dem Thema auszuweichen, indem er behauptet wir hätten keine negativen Auswirkungen auf die Parteilinie nachgewiesen, und als wir genau das taten ignorierte er uns vollständig und griff auf eine Verleumdungskampagne gegen Steiner zurück.

Eine revolutionäre Bewegung, die diese theoretischen Angelegenheiten jahrzehntelang vernachlässigt, muss zwangsläufig dafür zahlen. Lenin prägte den Spruch, dass es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung geben kann. Man kann dem als Nachsatz hinzufügen, dass eine revolutionäre Theorie nicht ohne marxistische Philosophie entwickelt werden kann. Es gab eine Zeit, als dies vom Internationalen Komitee sehr gut verstanden wurde: Der entscheidende Punkt im Kampf 1962-1963 gegen die amerikanische SWP war es zu zeigen, welche Verbindung zwischen der politischen Degeneration dieser Partei und ihrem Abtun der Dialektik als „konsequenten Empirizismus“ bestand9. Und dies war keine Ausnahmeerscheinung: Die Missachtung der Dialektik durch die führenden Theoretiker der Zweiten Internationale erzeugte eine objektivistische „Orthodoxie“, die die Bedeutung von sozialistischem Bewusstsein herunterspielte und den Weg für den Verrat dieser Bewegung am Marxismus ebnete. Ebenso war Trotzkis Kampf in den Jahren 1939-1940 gegen die bürgerliche Opposition von Max Shachtman und James Burnham eine klassische Demonstration dessen, wie die pragmatische Methode zur Verstümmelung des Marxismus führte, welche Trotzki mit den denkwürdigen Worten „Niederknien vor den geschaffenen Fakten“ charakterisierte. Das schon seit langer Zeit andauernde Versagen des Internationalen Komitees diese Lektionen zu befolgen – in anderen Worten, die Abkehr von einem entscheidenden Teils ihres eigenen Erbes – hat zu einer ähnlichen Verstümmelung des Marxismus geführt10. Im Falle des IK hat es die Form von Heraushaltungs-Praxis angenommen, und nicht die von opportunistischer Praxis, aber in Bezug auf eine revolutionäre Perspektive sind dies nur zwei Seiten derselben Medaille, denn eine Heraushaltungspolitik ist ebenso wie Opportunismus „ Niederknien vor den geschaffenen Fakten“.

IV.

Zu den deutlichsten und bezeichnendsten Erscheinungensformen dieses verkrüppelten Marxismus gehört die Abkehr von einem weiteren Teil des trotzkistischen Erbes – dem Eingreifen in alltägliche Kämpfe der Arbeiterklasse und dem Kampf für Übergangsforderungen als Brücken zum sozialistischen Bewusstsein. Wir haben dem ein ganzes Kapitel von MWHH gewidmet, wo wir gezeigt haben, dass das Internationale Komitee noch nie in seiner Geschichte so von der Arbeiterklasse entfremdet war wie heute. Es führt keine fortgesetzten Aktivitäten in der Arbeiterklasse durch, und leistet keine Arbeit in den Gewerkschaften. Es versucht nicht, Arbeiter in Kämpfen um wichtige soziale oder wirtschaftliche Angelegenheiten zu sammeln oder anzuführen. Es gibt keine Kampagnen um Geld unter Arbeitern zu sammeln. In den seltenen Fällen, wo Arbeiter tatsächlich die WSWS anschreiben um nach Rat zu ihren Kämpfen in ihren Fabriken zu fragen, werden ihnen Vorträge über die Geschichte der Arbeiterbürokratie gehalten, aber es gibt keinen Ratschlag, wie man einen Kampf um die Verteidigung ihrer Rechte führt. Dies ist ein völlig steriler Propagandismus, der nichts erreicht außer Arbeiter abzustoßen11. Folglich hat die Partei einen unentbehrlichen Aspekt marxistischer Arbeit praktisch aufgegeben, nämlich die Bemühung, einen Teil der militanten Arbeiter zu gewinnen und zu revolutionären Sozialisten auszubilden.

Mdv sagt dazu nichts außer den wiedergekäuten Argumenten, dass die SEP eine „kleine Organisation“ ist, und dass sie nicht „ in jedem Land zu jeder beliebigen Zeit eingreifen“ kann (d.h. Mexiko), und dass sie nicht „einen erfolgreichen Streik nach dem anderen produzieren“ kann, womit er wahrscheinlich erfolgreiche Eingriffe in Streiks durch die Partei meint. Aber in unserer Auseinandersetzung mit North geht es weder um „Erfolg“ (wie auch immer dieser definiert sein mag), noch haben wir die offenkundig dumme Forderung aufgestellt, dass die Partei in jeden Streik eingreifen soll. Unser Standpunkt war, dass die Partei sich immer auf reinen Journalismus beschränkte, wenn sie in Streiks eingriff.

Nichts zeigt dies so deutlich wie der trostlose Eingriff der Partei in den Streik der New Yorker Verkehrsbetriebe im Dezember 2005. Er gab den Arbeitern keine ernsthafte Führung, und forderte die Gewerkschaftsbürokratie nicht heraus. Erst einen Tag vor Beginn des Streiks machte die WSWS sich die Mühe Forderungen aufzustellen. Doch diese Forderungen waren nicht ernstzunehmen, sie waren nichts als journalistische Phrasendrescherei anstatt eines Programms, für das man Arbeiter mobilisieren könnte12. Wir haben diesen Streik nicht willkürlich ausgewählt. Wir haben die Parteibilanz zu diesem Streik deswegen untersucht, weil die WSWS Redaktion erklärte, dieser Streik sei nichts weniger als „eine neue Stufe im Klassenkampf“. Doch unsere Analyse ergab, dass ein ungeheurer Abgrund zwischen dieser Rhetorik und der Praxis bestand, welche nicht einmal das Mindestniveau erreichte, das man von Marxisten erwartet hätte, geschweige denn von den Anforderungen einer „neuen Stufe im Klassenkampf“.

War dies nur eine weitere „merkwürdige Verirrung“? North glaubt dies mit Sicherheit nicht. Er ist recht stolz auf die Parteiarbeit im Streik, und in seiner ersten Polemik machte er klar, dass er derartige Eingriffe auch in Zukunft führen will. Und tatsächlich hat sich sehr wenig in den letzten beiden Jahren verändert, außer der verbesserten Berichterstattung durch die Nutzung von digitalen Videos. Es gibt weiterhin keinen Hinweis darauf, dass die SEP eine Rolle bei der Mobilisierung von Arbeitern zur Verteidigung ihrer Rechte spielt. Nimmt man beispielsweise den Streik bei American Axle im Jahr 2008, über den umfangreich berichtet wurde, so deutet nichts darauf hin, das dies zu einer dauerhaften politischen Beziehung zu diesen Arbeitern geführt hat. Ganz im Gegenteil, kaum war der Streik vorbei, verschwanden die Beschäftigten von American Axle aus der WSWS, so wie schon zuvor die Beschäftigten der New Yorker Verkehrsbetriebe13.

Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Eine Partei die keine politische Beziehung zu militanten Arbeitern aufbauen kann, kann keinesfalls als Vorhut der Arbeiterklasse betrachtet werden. Die Geschichte der Partei alleine kann nicht garantieren, dass die Partei zur Vorhut wird. Solange dieses Erbe nicht gelebt wird und durch ständig erneuerte Verbindungen mit Sektionen der Arbeiterklasse weiterentwickelt wird, wird der Anspruch die Vorhut zu sein zur sinnentleerten Floskel. Jedem, der mit der Geschichte des Bolschewismus, Trotzkis Aufbauarbeit zur Gründung der Vierten Internationale und den Lehren aus dem Übergangsprogramm vertraut ist, sollte diese Wahrheit selbstverständlich sein.

Aber der heutigen SEP ist dies nicht selbstverständlich. Ein aktueller WSWS Artikel beschreibt die Entwicklung von Klassenbewusstsein folgendermaßen:

Mit der beginnenden Entwicklung einer revolutionären Stimmung unter Arbeitern, Intellektuellen und Jugendlichen, nutzen diese das Internet und Kommunikationstechnologien um ihren Kampf zu organisieren. Ihnen werden die Präsenz und die Eingriffe der WSWS und des IKVI zunehmend bewusst, und sie werden eigenständig bestimmen, ob das IKVI die Partei und die Führung sind, die ihren Klasseninteressen dienen14.

Der Autor dieser Bemerkung hat offensichtlich kein Verständnis von Übergangsforderungen, und wie man sie nutzen muss, um Arbeiter zum Kampf zu mobilisieren und um Brücken zum sozialistischen Bewusstsein zu bauen. Ebenso hat er keines von der ununterbrochenen Arbeit, die Marxisten leisten müssen, um Verbindungen mit den militantesten Sektionen der Arbeiter aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Warum sich mit dem Ganzen abmühen, wenn doch die objektive Situation und moderne Technologie sich um alles kümmern wird? Es ist alles so schön einfach: Die objektive Situation erzeugt die notwendige „revolutionäre Stimmung“ unter Arbeitern, und sobald diese anfangen das Internet zu nutzen um ihren Kampf zu organisieren, finden sie ihren Weg zur WSWS. Vergessen wir Lenins Standpunkt, dass spontanes Bewusstsein bürgerliches Bewusstsein ist, vergessen wir die zahllosen Fälle im 20. Jh., in denen die „revolutionäre Stimmung“ ihren Weg zur revolutionären Partei nicht gefunden hat. Vermutlich gilt dies alles nicht mehr, denn jetzt haben wir das Internet! Dies ist in anderen Worten eine Cyberspace-Version einer sehr alten Idee, nämlich des Objektivismus. Sie besagt, dass die Massen den Weg zur Partei finden, und nicht die Partei zu den Massen. Man sollte hervorheben, dass diese Anmerkungen am Ende einer 17-seitigen Polemik gegen Steiner und mich stehen. Man kann daher mit Sicherheit annehmen, dass alles in diesem Artikel von der WSWS Redaktion genau durchgesehen wurde. Daher zeigt die Tatsache, dass kein Redaktionsmitglied Einwände gegen diese Bemerkungen erhoben hat, wie sehr dieser „Internet-Objektivismus“ die vorherrschende Meinung innerhalb der Bewegung bildet.

V.

Eine weitere Anmerkung zur Heraushaltungs-Politik: Obwohl mdv unsere Kritik als „einfach lächerlich“ verwirft, bestätigt er unbeabsichtigt dennoch unsere Analyse indem er feststellt, dass die SEP eine „längere Periode organisatorischen Schwundes “ durchgemacht hat, aus der sie jetzt gerade erst herauskommt. Hier stellt sich die naheliegende Frage, wie mdv dieses Eingeständnis mit seiner Ansicht vereinbaren kann, dass die SEP eine grundsätzlich gesunde Bewegung sei (natürlich abgesehen von gelegentlichen „merkwürdigen Verirrungen“). In einer marxistischen Partei besteht mit Sicherheit ein Zusammenhang zwischen Organisation und Politik: Schwund in der ersteren ist ein Erscheinung von Schwund in der letzteren, vor allem wenn es sich um eine „längere Periode“ handelt.

Aber mdv wirft diese Bemerkung nur im Vorübergehen ein. Ihn interessiert das Verständnis für den Grund des Schwundes genauso wenig wie das für die „Verirrung“ der Partei bezüglich des Iraks. Statt dessen ist er zufrieden, dass der mysteriöse Schwund beendet ist, was man anhand der „neu gestalteten Webseite […], einer neuen Parteiverfassung […, und des] Aufbaus einer Studentenorganisation“ usw. sehen kann. Er versichert uns, dass dies „wohl kaum Anzeichen dafür [sind], dass die Parteiführung sich auf philosophischen Obskurantismus zurückgezogen hat.“ Aber wir sprachen nicht von „ philosophischen Obskurantismus“, sondern wir identifizierten den Pragmatismus und den Empirizismus als die Ursache der Probleme des IK. Diese Philosophien sind besonders „realistisch“ und „praktisch“, d.h. gut geeignet um organisatorischen Schwund zu überwinden. Das Problem dabei ist, zu welchem Zweck überwinden? So lange die Ursachen dieser Probleme nicht untersucht werden, kann dieser Ausbruch organisatorischer Aktivitäten genauso gut ein Zeichen von Krankheit und nicht von Gesundheit sein, ein Übergang vom passiven zu eher aktivem „ Niederknien vor den geschaffenen Fakten“. Nachdem die amerikanische SWP sich im Jahr 1963 vom IK abgespalten und mit den Revisionisten vereinigt hatte, wies sie ebenfalls viele Anzeichen von organisatorischer Vitalität auf und wuchs beträchtlich, aber dies stellte sich als krebsartiges Wachstum heraus und war ein Vorspiel für die offene Abkehr vom Trotzkismus. Alle möglichen revisionistischen Strömungen (z.B. die britische SWP, die französische LCR) hatten eine Menge organisatorischen Erfolgs, von den stalinistischen Parteien ganz zu schweigen, die niemals wieder so beliebt wurden wie zu Zeiten der Volksfront. Organisatorische Aktivität und Erfolg beweist gar nichts in revolutionärer Politik – es kommt immer auf den politischen Inhalt der Organisation an.

Ein Wort noch zur ISSE, der Studentenorganisation der SEP. In seiner letzten Bemerkung schreibt mdv: „Die Vorstellung, dass die SEP ihre Jugendorganisation bewusst so gestaltet hat, dass Studenten aus niedrigeren Einkommensschichten ausgeschlossen werden ist pure Phantasie.“ Doch dies ist mdvs Phantasie und nicht unsere. Wir haben nie bestritten, dass es Studenten aus der Arbeiterklasse in den Universitäten gibt, aber wir haben die unwiderlegbare Wahrheit herausgestellt, dass Hochschulen und Universitäten für Arbeiterfamilien immer unzugänglicher werden, ja sogar für Mittelschichtsfamilien. Und dieser Trend kann durch die weltweite Finanzkrise nur verstärkt werden. Wir haben nichts dagegen, dass die SEP Hochschulstudenten rekrutiert, einschließlich derer aus der Mittelschicht. Ganz im Gegenteil, aber unsere Befürchtung war dass die SEP ihre Jugendbewegung ausschließlich aus solchen Studenten aufbaut. Auch wenn es einige Studenten aus Arbeiterfamilien an den Unis gibt, gibt es unzählig mehr Jugendliche aus dieser Klasse, die nicht an der Uni sind. Warum führt die SEP keine politischen Aktivitäten unter ihnen? Was ist mit den arbeitslosen Jugendlichen, den Jugendlichen aus gesellschaftlichen Minderheiten, jungen Arbeitern in Gewerkschaften und den nicht organisierten? Die SEP hat seit Jahrzehnten keine Arbeit mehr in diesen Jugendschichten unternommen, so wie sie sich immer mehr von der Arbeiterklasse insgesamt entfremdet hat. Und jetzt, nach der von mdv eingestandenen „längeren Periode organisatorischen Schwundes“, startet die SEP den Aufbau einer Studentenbewegung in einem Milieu, das, wenn schon nicht ausschließlich, dann doch mit Sicherheit überwiegend, aus der Mittelschicht besteht. Angesichts dessen haben wir die ISSE als Zeichen der „herauskristallisierten Vorherrschaft von Mittelschichts-Strömungen in der Partei15“ gedeutet, und ich sehe nichts was dieser Einschätzung widerspräche. Die Kritik galt nicht den Mitgliedern der ISSE. Sie können nichts für die immer konservativere Orientierung der Bewegung, schuld ist ausschließlich die Führung der SEP.

Zum Ende seines Briefes versucht mdv den Spieß umzudrehen. Die SEP ist nicht mehr der Heraushaltungspolitik schuldig, als Steiner und ich schuldig sind, nicht an verschiedenen Streiks teilgenommen zu haben. Dies ist ein fadenscheiniges Argument, welches den offensichtlichen Unterschied zwischen uns und der SEP ignoriert: Wir sind zwei Individuen, nicht eine weltweite marxistische Partei im langer Geschichte und beträchtlichen Mitteln, einschließlich einer Webseite mit großer Leserschaft. Andere Unterstützer der SEP haben auf etwas andere Weise versucht den Spieß umzudrehen indem sie argumentierten, dass wir aufhören sollten die SEP zu kritisieren und statt dessen unsere eigene Bewegung aufbauen. Dieses Argument hat einen bekannten Klang: Es wird oft von Arbeiterbürokraten genutzt, um Kritik verstummen zu lassen, die sie nicht beantworten können. Auf jeden Falle ist es im Kontext einer Polemik innerhalb der marxistischen Bewegung besonders unangebracht. Wenn Marxismus eine Wissenschaft ist, dann bedeutet so eine ernsthafte Auseinandersetzung viel mehr als nur das Versagen einzelner Individuen. Auf dem Spiel stehen Angelegenheiten, die für den Marxismus und das ganze Projekt des Aufbaus einer revolutionären Massenpartei der Arbeiterklasse fundamentale Bedeutung haben. Im Falle einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wäre es absurd, wenn eine Seite argumentieren würde, dass die andere Seite ihre Kritik einstellen und ihre eigene Wissenschaft aufbauen sollte. Der Streit würde weitergehen, bis die Beweislast schließlich die Richtigkeit der einen oder der anderen Position entscheiden würde. Selbst wenn es sich herausstellen sollte, dass der gegenwärtige Kurs des IK vom Trotzkismus weg unumkehrbar ist (und man sollte nicht unterschätzen was für ein Schlag dies für sie Sache des revolutionären Sozialismus wäre), könnte eine neue Bewegung nur auf Grundlage einer sorgfältigen Kritik der politischen und theoretischen Entwicklung des IK gegründet werden, welche Steiner und ich versucht haben.

1Andrew River, „Comments on ‘Leon Trotsky, Soviet Historiography and the Fate of Classical Marxism’“, permanent-revolution.org, 08. Dez. 2008: http://permanent-revolution.org/forum/2008/12/comments-on-leon-trotsky-soviet.html. Mdvs erster Kommentar zu diesem Blog und Rivers Antwort sind dort ebenfalls zu lesen.

2Um ganz genau zu sein nennt North ein einziges Mal unsere Kritik der WSWS-Linie zum Irak, aber dies ist ein charakteristisches Beispiel intellektueller Unaufrichtigkeit. Er schreibt: „Steiner besuchte die von der SEP organisierte nationale Konferenz gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan am 30. März 2003. Bei jener Versammlung unterstützte er die Perspektive, die ich in meinem Eröffnungsvortrag vertreten hatte, und gab keinen Hinweis darauf, dass er Einwände gegen Politik und Aktivitäten der SEP habe.“ Dann fügt North folgendes als Fußnote an: „In MWHH dagegen verurteilen Steiner/Brenner die Politik und die Aktivitäten der SEP in Bezug auf den Krieg mit den allerwütendsten Bemerkungen.“ Offensichtlich wird hier versucht Steiner als Heuchler darzustellen, so dass es nicht notwendig ist sich mit unserer Kritik auseinanderzusetzen. Aber dies ist ein plumpes Ausweichmanöver: Die WSWS-Linie zum Irak entgleiste im April 2004, und diese Periode dokumentieren wir detailliert aber ohne wütende Worte in MWHH. Steiner konnte kaum seine Besorgnis darüber auf einer Konferenz äußern, welche ein Jahr vor diesen Ereignissen statt fand (siehe David North, „Marxismus und Frankfurter Schule“, http://www.wsws.org/de/2009/feb2009/ste3-f06.shtml).

3Diese und weitere Verweise auf die Bilanz der WSWS zum Irakkrieg können im 2. Kapitel von MWHH nachgeschlagen werden. Dort sind alle Links zu den genannten Artikeln enthalten: http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch02.pdf

4http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch02.pdf, S. 45f

5http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch02.pdf, S. 25. Der genannte WSWS Artikel ist „Professor Chomsky Comes in from the cold”, 5. April 2004, http://www.wsws.org/articles/2004/apr2004/chom-a05.shtml

6Unsere Besprechung der Enthaltungs-Bilanz des IK in Mexiko befindet sich im Erföffnungskapitel von MWHH: http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch01.pdf S. 20ff

7Man sollte sich daran erinnern, um ein Gegenbeispiel anzubringen, dass auf der Höhe der Großen Depression die frühen amerikanischen Trotzkisten (mit viel „begrenzteren“ Mitteln als die SEP) das Geld für ein Flugticket zusammengekratzt haben, damals eine exorbitante Ausgabe, um James Cannon nach Minneapolis zu schicken, damit dieser dort die Parteiarbeit im Teamster-Streik 1934 anführen konnte. So verhält sich eine revolutionäre Partei: Sie beginnt mit den objektiven Bedürfnissen der Arbeiterklasse, und nicht mit einer Kosten-Nutzen Rechnung.

8Siehe „Foreshadowing In Defense of Marxism: Trotsky’s Philosophical Notebooks“, permanent-revolution.org: http://www.permanent-revolution.org/archives/trotsky_notebooks.pdf

9Es ist eine interessante Parallele zur Gegenwart, dass diese politische Abtrünnigkeit sich in Begeisterung für kleinbürgerlichen Nationalismus in einem Dritte-Welt Land manifestierte – in diesem Fall für Castroismus in Kuba. Das entscheidende Dokument, das die Verbindung zwischen philosophischer Methode und politischem Opportunismus demonstriert, ist Opportunism and Empiricism: http://www.permanent-revolution.org/archives/opportunism_empiricism.pdf. Es ist ein weiteres Indiz für die selektive Vergesslichkeit der Führung des IK was die eigene Geschichte betrifft, dass sie nie einen Grund dafür sah, dieses Dokument auf der WSWS zu veröffentlichen.

10Eine ausführliche Besprechung dieses Themas findet sich in Kapitel 4 von MWHH: http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch04.pdf, insbesondere S. 110-113. Wie wir dort schrieben: „Wenn dialektisches Theoretisieren losgelöst von Geschichte leer ist, dann ist historische Analyse losgelöst von Dialektik blind“. Dies fasst prägnant die gegenseitige Abhängigkeit von Geschichte und Philosophie in der marxistischen Bewegung zusammen.

11Siehe Kapitel 5 von MWHH, http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch05.pdf, S. 118f

12Die Bilanz der WSWS zum Streik der New Yorker Verkehrsbetriebe wird in Kapitel 5 von MWHH untersucht: http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch05.pdf, S. 120-123

13Nachdem der Streik im Mai endete, gab es nur eine weitere Erwähnung von American Axle, als der Präsidentschaftskandidat der SEP, Jerry White, eine Wahlkampfveranstaltung vor der Fabrik abhielt. Der Bericht der WSWS (vom 3. Okt. 2008, http://www.wsws.org/articles/2008/oct2008/axle-o03.shtml) bemerkte, dass mehrere Arbeiter White berichteten, dass „die Bedingungen sich seit dem Ende des Streiks ernsthaft verschlechtert haben“. Ein Arbeiter wurde zitiert: „Es gab einen ununterbrochenen Krieg“ gegen die Arbeiter in der Fabrik. Doch nicht ein Bericht über diesen „Krieg“ erschien auf der WSWS. Offensichtlich hatte die Partei keine Beziehungen zu diesen Arbeitern unterhalten, und Whites Auftritt fünf Monate später war nicht viel mehr als eine Fotogelegenheit.

14Steiner, Brenner and Neo-Marxism: The Marcusean Component”, WSWS, 2. Jan. 2009: http://www.wsws.org/articles/2009/jan2009/bren-j02.shtml.

15Siehe Kapitel 11 in MWHH: http://www.permanent-revolution.org/polemics/mwhh_ch11.pdf, S. 285